Ursachen des Krieges um die Ukraine

von Dr. Holger Schwarzlose

Stand: 13.9.2022

Zusammenfassung

Der Krieg Russlands gegen die Ukraine wird verständlich, wenn man die Entwicklungsgeschichte beider Staaten betrachtet. Hinzu kommen die Einwirkungen des weltpolitischen Umfeldes, die insbesondere durch die Interessen der USA geprägt sind. Der Einfluss Europas auf das Geschehen ist dagegen eher begrenzt. Der Krieg wird mit hoher Wahrscheinlichkeit mit einer deutlichen Schwächung Russlands enden, das dann zu einem Juniorpartner Chinas abzusinken droht.

Aufstieg und Untergang von Imperien

Der Grundstein für ein Imperium wird gemeinhin durch Einzelpersonen mit besonderen Eigenschaften gelegt. Diese sind vorwiegend Charisma, Überzeugungskraft, Intelligenz, Organisationstalent, Gewaltbereitschaft, Herrschaftswille und ein Denken in großen Maßstäben. Kraft dieser Fähigkeiten gelingt es ihnen, die Macht in ihrem eigenen Gemeinwesen zu übernehmen. Liegt dem Kampf um die Macht eine ausgreifende Idee, also starkes Sendungsbewusstsein auf politischer, religiöser, kultureller, zivilisatorischer oder militärischer Ebene zugrunde, ist die Führerschaft dieser Personen im eigenen (Kern-)Volk gesichert, das nunmehr ganz auf die neu entstandene Herrschaftszentrale ausgerichtet wird. In der Regel sind solche Staaten ihren Nachbarvölkern zunächst überlegen. Und da Machtstreben stets den wohl größten Handlungsantrieb der Herrschenden darstellt, werden diese Nachbarvölker dem aufstrebenden Staat einverleibt. Gern wird dabei herausgestellt, die Eroberung diene einer großen Idee und sei daher nutzbringend auch für die Unterworfenen. Die Fremdvölker stärken sodann die Macht der Zentrale auf allen Ebenen, nicht zuletzt auch durch die erzwungene Bereitstellung von Hilfstruppen.

Ein Imperium ist also ein Vielvölkerstaat, in dem eine Zentralregierung aus einem Kernvolk heraus die übrigen Völker mehr oder weniger despotisch beherrscht.

Um ihre Herrschaft an den Grenzen des Reichs und den inneren Frieden zu sichern, sieht sich die Zentralregierung stets genötigt, die aktuell angrenzenden freien Völker ebenfalls zu unterwerfen. Dieser Prozess endet erst, wenn das Imperium an topographische Grenzen stößt wie große Wüsten, Gebirge oder Meere. Die Expansion wird fortgesetzt, wenn diese Hindernisse aufgrund technischen Fortschritts überwunden werden können.

Trifft das Imperium auf eine andere Großmacht, die es nicht sofort unterwerfen kann, kommt es, ggf. über Jahrhunderte, zu häufigen Überfällen, Kleinkriegen und größeren Offensiven. Die militärischen Operationen können von Friedensphasen unterbrochen sein, in denen Handel und kultureller Austausch stattfinden. Die Dauerkonfrontation endet gewöhnlich mit dem Untergang eines der beiden Reiche oder dem Aufkommen einer dritten Macht, gegen die sich die Ursprungsgegner zusammenschließen.

In der Geschichte ist kein Fall von dauerhaft friedlich nebeneinander bestehenden Imperien bekannt. Erst in neuester Zeit ändern sich die Abläufe: In den beiden letzten weltumspannenden Kriegen wurde das Aggressionspotential der Völker deutlich abgebaut, so dass Kriegsmüdigkeit weitere Großkriege für einige Jahrzehnte verhinderte. Dazu kam die Abschreckung durch die vernichtende Wirkung der Atomwaffen. Dieser Effekt setzt sich fort. Allerdings versuchten die Großmächte, sich im „kalten Krieg“ gegenseitig tiefgreifend zu schaden und führten darüber hinaus eine Reihe von Stellvertreterkriegen. Auch der Einfluss weltweiter Organisationen wie der der UNO und die fortschreitende Globalisierung der Handelsbeziehungen wirken dämpfend auf die Kriegsbereitschaft. Allerdings werden die Folgen des Klimawandels die Kriegswahrscheinlichkeit heben. Im Übrigen wächst das Aggressionspotenzial der Menschheit kontinuierlich, mit der Folge der Relativierung der Abschreckung durch Vernichtungswaffen.

Die Lebensdauer eines Imperiums wird nicht nur von Mächten seines Umfeldes bestimmt, sondern auch von seiner inneren Verfasstheit. Handelt es sich beispielsweise um einen autoritären Staat mit einem Despoten an der Spitze, kennzeichnet vor allem Ausbeutung das Verhältnis der Zentralregierung zu den Randvölkern. Verteilt sich dagegen die Macht der Zentrale auf mehrere Personen und ist der Herrscher durch einen Wahlakt bestimmt worden, werden die Randvölker dem Kernvolk annähernd gleichgestellt. Je mehr diese Randvölker von der Kultur und Zivilisation der Eroberer durch Verbesserung ihrer Lebensqualität profitieren, desto eher nehmen sie den Verlust ihrer Freiheit in Kauf und bewahren den inneren Frieden. Im umgekehrten Fall wird sich die Zentralregierung häufiger Aufstände mittels eines übergroßen Militärapparates erwehren müssen. Ein despotisches Imperium ist daher im Innern dauerhaft gefährdet.                              

Verschlechtert sich die Versorgung der Vasallenvölker bei wachsenden Freiheitsbestrebungen und trifft diese Entwicklung auf eine zunehmend demoralisierte Zentralregierung, wird für das Imperium die Gefahr der Auflösung real.

Zu den despotischen Imperien zählt das ehemalige mongolische Weltreich des Dschingis Khan und seiner Nachkommen. Es zerfiel schon nach wenigen Jahrzehnten in Teilreiche trotz Vorhalten einer übergroßen Armee. Das fortschrittliche britische Kolonialimperium dagegen war trotz einer relativ sehr kleinen Armee über Jahrhunderte stabil und löste sich in meist allseitigem Einvernehmen weitgehend friedlich auf.

Als das nationalsozialistische Deutschland begann, sich zu einem Imperium zu entwickeln, geriet es schnell in Konkurrenz zum britischen und sowjetischen Imperium sowie zur aufstrebenden Großmacht USA. Die Konfrontation endete erwartbar mit seinem Untergang.

Imperien wachsen oder schrumpfen. Ein Zustand dauerhafter territorialer Stabilität ist eher selten. Ein typisches Beispiel für das Werden und Vergehen von Imperien ist das antike römische Reich. Es unterwarf sämtliche Völker rund um das Mittelmeer, scheiterte jedoch schließlich bei nachlassender moralischer Stärke an den Germanen im Nordosten und den Parthern, später den Sassaniden (Persern) im Südosten, während im Westen Meere, im Süden Wüsten und im Norden lebensfeindliche Landschaften das Reich schützten. Das Oströmische Reich (Byzanz) schließlich wurde ebenfalls bei abnehmender moralischer Festigkeit vom türkisch-arabischen Imperium besiegt und einverleibt.

Hat ein zwischenzeitlich untergegangenes Imperium oder eine Hegemonialmacht über mehrere Generationen bestanden und existiert sein Kernvolk weiterhin, lebt hier der imperiale Leitgedanke langfristig fort, getragen insbesondere von dessen Eliten und gebildeten Schichten. Tritt dann unter günstigen Bedingungen erneut eine rückwärtsorientierte Zentralregierung auf, ist sie durchaus in der Lage, im Volk expansionistische Bestrebungen wiederzubeleben. Auch ehemalige Imperien bleiben somit eine latente Gefahr für ihre Nachbarvölker.

Sonderfall USA

Eine Weltmacht muss nicht zwingend ein Imperium sein. Die Vereinigten Staaten von Amerika sind eine solche Weltmacht, bestehen jedoch aus einem einzigen Volk, das aus der Assimilierung zahlreicher Ethnien hervorgegangen ist. Die USA sind vielmehr eine globale Hegemonialmacht, die ständig bestrebt ist, bestehende und aufkommende Imperien, ggf. auch unter Einsatz militärischer Mittel, zu schwächen und einzuhegen. Zwecks Unterstützung ihrer globalen Ziele ist dieser Staat bestrebt, andere Völker zu offiziellen oder inoffiziellen Verbündeten zu machen, wenn diese mit oder ohne ihre Hilfe eine erwünschte (meist demokratische) Regierungsform angenommen haben. Sodann wird ihnen militärischer Schutz gegenüber dem jeweiligen, sie bedrohenden Imperium geboten.

Dieser Schutz bedeutet auch Abhängigkeit: Sollten Imperien die Verbündeten bedrängen, geraten sie in Konfrontation zu den USA, wodurch sich die Wahrscheinlichkeit kriegerischer Verwicklungen erhöht. Umgekehrt wird erwartet, dass sich die Verbündeten mit den globalen Zielen der USA identifizieren. Wenn also die USA in ihrer Eigenschaft als Hegemon Schritte gegen Imperien oder Staaten unternimmt, erwarten sie Unterstützung von allen ihren Verbündeten, auch wenn diese vom aktuellen Konflikt nicht betroffen sind. So können befreundete Staaten gegen ihre eigenen Interessen in kriegerische Verwicklungen der USA hineingezogen werden. Bei der Schwächung ihrer Gegner verfolgen die USA auch eigene Wirtschaftsinteressen.

Auszug aus der Geschichte Russlands

Slawische Stämme besiedeln nach der Völkerwanderungszeit (um 300 bis 600 n.Chr.) das heutige Polen und Nord-West-Russland sowie Teile des Balkans. Die Waräger (Untergruppe der Wikinger) dringen im 9. Jahrhundert bis an die südliche Wolga, das Schwarze Meer und Byzanz (Ost-Rom) vor und begründen mit ihrem Geschlecht der Rurikiden das Großfürstentum Kiew (Kiewer Rus). Später findet eine Assimilierung mit den slawischen Völkern statt. Dieses eher locker organisierte Reich erstreckt sich von der Ostsee im Norden bis hinter Kiew im Süden und von den Karpaten bis hinter das heutige Moskau. Im Süden der heutigen Ukraine ziehen nacheinander steppennomadische Turkvölker durch, wie die Awaren, die Ungarn, die Petschenegen und Kumanen. Letztere bilden dort ein eigenes Reich.  

Das Kiewer Reich zerfällt in den folgenden Jahrhunderten in autonome Fürstentümer, die sich ständig bekriegen und dadurch schwächen. Batu, mongolischer Khan, Enkel Dschingis-Kahns, kann deshalb das gesamte Reich 1240 bis auf das Fürstentum Nowgorod im Norden erobern. Sein Plan, anschließend das übrige Europa zu überrennen, wird jedoch nicht ausgeführt. Von nun an herrscht die „Goldene Horde“. Sie beschränkt sich allerdings auf die Eintreibung von Tributzahlungen, hin und wieder Strafexpeditionen und die zeremonielle Demütigung der russischen Adligen. Außerdem sind Truppenkontingente zu stellen. In der Folge wird der Hauptteil des damaligen Russlands vom Westen abgeschnitten und verfällt. Große Teile der Bevölkerung wandern nach Nord-Osten aus.

Die Einheit des einstmaligen Kiewer Russlands zerbricht. Es entwickelt sich ein großrussischer Teil im Nord-Osten zwischen Wolga und Oka unter fortdauernder mongolischer Vorherrschaft, ein weißrussischer unter Polen-Litauen und ein lockerer ukrainischer Teil, der bis zum Don reicht und das Kosaken-Hetmanat, ein staatsähnliches politisches Gebilde, umfasst. Auch die russische Sprache unterteilt sich in entsprechende Unterarten. Der Süden der heutigen Ukraine ist von türkisch-mongolischen Völkern, den Kumanen, später den Krimtataren, schließlich auch den Osmanen schwach besiedelt. Auch griechisch-byzantinische Einflüsse wirken sich aus.

1328 erhebt der Khan der „Goldenen Horde“ das Gebiet um Moskau zu einem Großfürstentum. Mit Iwan Kalita (1325 bis 1341) beginnen die russischen Herrscher die „Sammlung der russischen Erde“, zunächst mit Genehmigung des jeweiligen Khans, dann verstärkt nach dem Zerfall der „Horde“. Dieser Zerfall wird eingeleitet mit dem Sieg in der Schlacht auf dem Kulikover Feld südlich von Moskau 1380. Das Khanat spaltet sich (Kasan und Krim) und verliert weiter an Bedeutung. Von nun an expandiert das Großfürstentum Moskau ununterbrochen in alle Himmelsrichtungen.

Das Großfürstentum vereinigt sich 1478 mit dem Fürstentum Nowgorod.1556 wird Astrachan am Kaspischen Meer erreicht. Ab 1582 werden östlich des Urals die ersten Siedlungen gegründet. Die Erschließung Sibiriens setzt ein, bis schließlich 1860 der Pazifik beim heutigen Wladiwostok erreicht wird. 1721 werden Estland und Lettland, bis 1795 schließlich Litauen eingenommen. Die Kaukasusländer Georgien, Armenien und Aserbeidschan werden bis 1810, die mittelasiatischen Turkgebiete Kasachstan, Turkmenistan, Usbekistan, Tadschikistan und Kirgisistan bis 1885 einverleibt. Im Norden kommt die Ausdehnung mit der Übernahme Finnlands 1809 zum Abschluss, im Westen mit der Übernahme (Kongress-)Polens und im Süden mit der der Ukraine bis zum Schwarzen Meer.

Russland als Kolonialmacht

Die Ausdehnung (Groß-)Russlands beschleunigt sich mit Beginn des 16. Jahrhunderts, also zu einem Zeitpunkt, als die westeuropäischen Mächte wie Spanien, Portugal, Frankreich und England ihre überseeischen Kolonien erwarben. Russland errichtet ebenfalls ein weit umspanntes Kolonialreich und zwar in direkter Nachbarschaft an seinen (wandernden) Grenzen. In der Sowjetzeit kommt die Mongolei als Vasallenstaat hinzu, nach dem 2. Weltkrieg weitere Satellitenstaaten, nämlich Polen, die Tschechoslowakei, Ungarn, die DDR, Rumänien, Bulgarien und Albanien. Letzteres entzieht sich der russischen Einflussnahme 1968, indem es sich nach Rotchina orientiert. Der letzte Versuch zu weiterer kolonialer Ausdehnung findet 1979 mit der Eroberung Afghanistans statt, scheitert jedoch letztlich.

Die Entlassung der Kolonien westeuropäischer Mächte in die Unabhängigkeit geschieht im Wesentlichen in den 50er- bis in die 80er-Jahre des 20. Jahrhunderts. Das Kolonialreich Russlands bleibt äußerlich davon unberührt, wenn sich auch in den Satellitenstaaten mehrfach örtlicher Widerstand gegen die Vormundschaft regt (DDR 1953, Ungarn 1956, Tschechoslowakei 1968, Polen 1956, 68, 70, 76). Erst als das sowjetische Imperium 1991 infolge sozialistischer Misswirtschaft, fehlender Privatinitiative, Überrüstung und Aushöhlung der kommunistischen Ideologie kollabiert, werden sämtliche Sowjetrepubliken und Satellitenstaaten überraschend frei.

Der Prozess der Dekolonialisierung ist allerdings insofern noch nicht abgeschlossen, als in der Russischen Föderation zahlreiche Völker mit etwa 29 Mio. Angehörigen, wie jene in Dagestan oder Tschetschenien, weiterhin auf ihre Selbstständigkeit warten.

Aktueller Konflikt Russland – Ukraine

Das über Jahrhunderte im Volk der Großrussen (Kernvolk) gewachsene imperiale Bewusstsein hat den Zusammenbruch der Sowjetunion, also die Abspaltung der meisten seiner Randvölker weitgehend unbeschadet überdauert und wird seit Jahrzehnten durch Regierungspolitik gefördert. Dabei wird der imperiale Wille speziell auf die angeblich notwendige Befreiung der russischen Bevölkerungen außerhalb Russlands gelenkt. Ziel ist die Wiederaufnahme der „Sammlung russischer Erde“.

Russland hat 144 Millionen Einwohner, darunter 115 Millionen Russen (ca. 80 %). Die restlichen 29 Millionen verteilen sich auf etwa 100 Fremdvölker. Ca. 13 Millionen bekennen sich zum Islam, also einer nichtrussischen Kultur.

In den 14 Nachfolgestaaten der Sowjetunion außerhalb des heutigen Russlands leben weitere 17 Millionen Russen. Davon sind einige besonders hervorzuheben, weil dort Russen einen großen Anteil an der Bevölkerung stellen und/oder eine große Zahl an Russen in diesen Staaten leben.

Dabei handelt es sich um Kasachstan mit 3,9 Mio. Russen (Anteil 23,8 %). Die Regierung ist russlandfreundlich und bittet ggf. um militärische Hilfe bei inneren Unruhen. Es ist mit Russland eng verzahnt und gehört der GUS (Gemeinschaft unabhängiger Staaten als freiwillige Nachfolgeorganisation der Sowjetunion) an.

Belarus mit 1,1 Mio. Russen (Anteil 11 %) ist von Russland wirtschaftlich abhängig, mit ihm eng verbündet und gehört ebenfalls zur GUS.

Das Gleiche gilt für Usbekistan. Hier wohnen 1,4 Mio. Russen (Anteil 5,5 %). Das Land versucht, die Abhängigkeit von Russland zu mindern.

In Kirgisistan mit seinen 600 Tausend Russen (Anteil 12,5 %), das ebenfalls der GUS angehört, sind russische Truppen stationiert.

Die Regierungen aller dieser Staaten sind russlandfreundlich eingestellt und daher aktuell nicht Ziel weitergehenden Machtstrebens Russlands.

Estland mit 380.000 Russen, die jedoch 28,1 % der Bevölkerung ausmachen sowie Lettland mit 500.000 Russen (Anteil 25,2 %) sind zwar natürliche Ziele russischer Expansionsstrebens, jedoch bereits Mitglieder der NATO. Angesichts des bestehenden Kräfteverhältnisses erscheint eine militärische „Befreiung“ zurzeit nicht durchführbar.

Auch die ehemaligen westlichen Satellitenstaaten sind derzeit nicht angreifbar, weil sie inzwischen ebenfalls der NATO angehören.

Da die russische Führung in imperialen Kategorien denkt, stuft sie die NATO ebenfalls als Imperium und weniger als reines Verteidigungsbündnis ein. Tatsächlich hat die NATO bereits mehrere Angriffskriege geführt, wie zum Beispiel im ehemaligen Jugoslawien und Irak sowie in Libyen und Afghanistan. Wie oben ausgeführt, kann es auf Dauer kein friedliches Nebeneinander von Imperien geben. Daher versucht die russische Regierung, für eine zukünftig zu erwartende militärische Auseinandersetzung eine möglichst günstige Position einzunehmen, also Russland Länder einzuverleiben, bevor diese mit dem vermeintlichen „Konkurrenzimperium“ verschmelzen.

Hierzu zählt die ehemaIige Sowjetrepublik Moldau, von der sich bereits der Landstrich Transnistrien praktisch abgespalten hat. Dort leben die meisten der 400.000 Russen, die an der Gesamtbevölkerung einen Anteil von 13 % stellen, im dazugehörigen Transnistrien 30 %.

Anders ist die Lage hinsichtlich der Ukraine. Hier leben 8,4 Mio. Russen mit einem Anteil an der Bevölkerung von 17,3 %. Außerdem hat dieses Gebiet eine lange gemeinsame Geschichte mit Russland. Da die Führung der Ukraine seit einigen Jahren geneigt ist, sich westlichen Bündnissen anzuschließen, sieht die russische Regierung bei der Eingliederung dieses Staates in ihren Machtbereich dringenden Handlungsbedarf. Da sie es nicht für ausgeschlossen hält, auf Dauer mit der NATO in einen Krieg verwickelt zu werden, riskiert sie jetzt einen – aus ihrer Sicht – Präventivschlag gegen die Ukraine mit dem Mindestziel, die vorwiegend russisch besiedelten Gebiete zu übernehmen. Tatsächlich bilden lediglich auf der Halbinsel Krim Russen die absolute Mehrheit, nicht jedoch im umkämpften Donbass oder anderswo innerhalb der Ukraine.

Der Krieg wird durch gegensätzliche Interessen seiner beteiligten Mächte angetrieben: Auf der einen Seite steht die russische Führung mit ihrer Idee der imperialen Ausdehnung, aber auch der Sorge, auf Dauer gegenüber der NATO in eine aussichtslose Position zu geraten. Die Führung kann sich ihrer Unterstützung durch den Großteil des russischen Volkes in seiner Sehnsucht nach nationaler Größe sicher sein. Denn jede Information zum Kriegsgeschehen, die den Einzelnen erreicht, wird gemäß seiner vorgefassten, imperial gefärbten Überzeugung bewertet und demgemäß als wahr akzeptiert oder als Lüge verworfen. Dadurch erzielt die russische Führung mit einschlägiger Propaganda eine erwünschte stabile Zustimmung zu ihrer Kriegspolitik.

Zudem steht ein Volk meist hinter seiner Regierung, wenn sich ihr Staat im Krieg befindet. Widerstand kommt erst auf, wenn der Krieg völlig sinnlos erscheint und die persönlichen Nachteile überhandnehmen. Sollte allerdings die Leidensfähigkeit des russischen Volkes heute genauso hoch sein wie in den vergangenen Jahrhunderten, wird dieser Zustand erst sehr spät erreicht werden, wahrscheinlich erst nach einer misslungenen Generalmobilmachung.

China als Verbündeter Russlands verfolgt in diesem Konflikt seine eigenen imperialen Interessen: Es versucht, durch Unterstützung Russlands seinen Einfluss in Ostsibirien zu verstärken mit der Maßgabe, dieses Gebiet auf Dauer zu beherrschen, an den russischen Bodenschätzen zu partizipieren und letztlich ganz Russland in seinen Machtbereich zu überführen. Dies erscheint nicht unmöglich, da China sehr bald die stärkste Wirtschaftsmacht der Welt sein wird, während Russlands Bruttosozialprodukt selbst von demjenigen des relativ kleinen Italiens übertroffen wird..

Auf der anderen Seite findet sich ein Konglomerat von Staaten, die mehr oder weniger den Abwehrkampf der Ukraine unterstützen. Da sind zum einen die ehemaligen Satellitenstaaten der Sowjetunion, die keinesfalls erneut von Russland unterworfen werden wollen und sich dabei auf die Vereinbarungen der „Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE)“ stützen, die auch von Russland unterschrieben wurden. Hiernach kann jeder Staat souverän über seine Bündniszugehörigkeit entscheiden. Ein Recht großer Staaten auf Einflusszonen wird von der Weltgemeinschaft offiziell nicht anerkannt. Alle diese Staaten sind auf eigenen Wunsch in die NATO eingetreten.

Zum anderen sind die übrigen Staaten des demokratischen Europas zu nennen, die mit Sorge auf die Ausdehnungsbemühungen Russlands blicken. Deutschland schließlich kommt in diesem Krieg eine Sonderstellung zu, indem es sich zwar nicht von Russland bedroht fühlt und zudem auf dessen Erdgaslieferungen usw. nicht verzichten mag, andererseits Solidarität mit seinen europäischen Nachbarn üben will.

Haupttreiber dieser militärischen Auseinandersetzung auf westlicher Seite sind die USA mit ihrer Vormachtstellung in der NATO. Im Gegensatz zu den europäischen Staaten sind sie durch die laufenden Sanktionen gegenüber Russland nicht benachteiligt, sondern profitieren im Gegenteil von diesen, da sie nun als Grundstofflieferanten interessanter werden. Und schließlich verfolgen sie strikt ihr Interesse an der Schwächung von Imperien oder solchen, die es werden wollen. Daher forcieren sie besonders die Lieferung von Waffen an die ukrainische Armee, um Russland so in einen langdauernden Abnutzungskrieg zu zwingen und damit dessen Großmachtambitionen zunichte zu machen. Um dieses Ziel zu erreichen, bestärken sie auch die europäischen Staaten in ihrer Konfrontation mit Russland.

Neben den USA ist auch Großbritannien an einer Schwächung Russlands besonders interessiert. Dies mag als ein Nachklang aus der Zeit des britischen Imperiums zu werten sein, dessen Grundsatz darin bestand, auf dem europäischen Kontinent keine Hegemonialmacht zuzulassen.

Wie in den meisten Kriegen ist auch hier der Ausgang ungewiss. Die Interessenlage der Kriegsparteien spricht nicht für ein baldiges Ende der Kampfhandlungen. Eine Eskalation, eine Ausweitung des Krieges ist deshalb denkbar wohl auch deshalb, weil das über Jahrzehnte gewachsene globale Aggressionspotenzial freigesetzt zu werden droht. Hinzu kommt der fortschreitende Klimawandel, der das Weltgeschehen zunehmend beeinflussen, speziell Völkerwanderungen auslösen wird. Auf lange Sicht wird Russland höchstwahrscheinlich vor der Entscheidung stehen, sich entweder in die europäische Völkerfamilie in angemessener Form einzubringen oder als europäischer Vorposten Chinas zu enden. In jedem Fall wird Russland gezwungen sein, von imperialen Ideen Abstand zu nehmen.

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